Henry und Otis sind zwei Proleten, die sich eine gemeinsame
Wohnung teilen. Wenn sie nicht am Saufen oder am Fernschauen sind, halten sich
die beiden Ex-Knackis mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser. Eines Tages muss
Otis erfahren, dass Henry ein gestörter Serienmörder ist, der viele
Menschenleben auf dem Gewissen hat und nachts durch die Straßen zieht um Leute
zu ermorden. Von der Gewalt angetan, schließt sich Otis seinem psychopathischen
Mitbewohner an und die beiden ziehen mordend umher. Doch als Otis‘ Schwester
Becky Gefühle für Henry zu entwickeln scheint, bahnt sich Streit an.
“Henry – Portrait of a Serial Killer“ von Regisseur John
McNaughton basiert lose auf der Geschichte des Serienmörders Henry Lee Lucas,
welcher im Amerika der 1960er sein Unwesen trieb. Obwohl eine Texttafel am
Anfang besagt, dass man die Ereignisse im Film nicht als genaue Schilderung
verstehen soll (was auch richtig ist), sind so viele Parallelen zu dem echten
Kriminalfall vorhanden, dass man durchaus von einer Interpretation mit einigen
künstlerischen Freiheiten sprechen kann. Doch nicht nur Freunde des True Crime
Genres zählen “Henry“ seit seinem Erscheinen im Jahre 1986 zu ihren Lieblingen.
Der betont düstere Film funktioniert auch perfekt als Charakterstudie und
düsterer Thriller und hat definitiv mehr zu bieten, als den Bezug auf eine der
grausamsten Mordserien Amerikas.
Die Handlung von “Henry“ startet langsam. Nach einigen
Aufnahmen von getöteten Frauen, lernen wir Henry kennen, der von einem
Parkplatz aus einer Frau in seinem Auto folgt. Als er sieht, dass sie zu Hause
von ihrem Mann empfangen wird, dreht er jedoch um und nimmt eine Anhalterin
mit. Zeitgleich kommt Becky in Chicago an und wird dort von Otis, ihrem Bruder
und Henrys Mitbewohner, vom Flughafen abgeholt. Becky hat eine zerrüttete
Beziehung hinter sich und versucht nun ein neues Leben in Chicago anzufangen.
Nachdem Henry unter einem Vorwand in das Haus der Frau eingedrungen ist, der er
anfänglich nachgefahren ist, lernt er zu Hause Becky kennen, welche von seinem
charmanten Auftreten direkt angetan ist. Während Henry und Otis in Henrys Wagen
mit zwei leichten Mädchen zu Gange sind, bricht Henry der einen das Genick und
befördert auch die andere ins Jenseits. Otis findet Gefallen an der Idee des
Mordens und so startet die Mordserie. Wenig später töten sie gemeinsam einen schmierigen
An- und Verkaufshändler und stehlen eine Videokamera aus seinem Inventar. Nun
ziehen die beiden Randexistenzen wütend durchs Land und halten ihre grausamen
Morde auf Video fest. Doch dieses zweifelhafte Glück hält nicht lange, denn auf
Dauer entpuppt sich Henry als kränker als gedacht…
“Henry“ ist ein finsterer und abgründiger Film, der jedoch nicht
den Fehler begeht, durch kurzlebige Effektgewitter
oder forcierte Pseudohärte den Zuschauer in seinen Bann ziehen zu wollen.
McNaughtons Film steht mit beiden Beinen in der Realität und baut eine
durchgehend unangenehme, krankhafte Atmosphäre auf, ohne zu viel zu zeigen. Der
Regisseur versteht es, durch bloße Andeutungen und unterschwellige Hinweise dem
Zuschauer zu offenbaren, wie gestört und böse die Handlung des Films und die
Personen, die sie tragen wirklich sind. Natürlich gibt es in “Henry“ auch
einige sehr graphische Gewaltdarstellungen, jedoch lebt “Henry“ primär von der kaputten Welt,
welche die drei tragenden Charaktere kreieren.
Henry, Becky und Otis sind allesamt antisoziale, verlorene
Menschen, welche am Rande der Gesellschaft existieren. Dies ist wohl auch der
springende Punkt und die Würze in John McNaughtons Klassiker: das Gefühl von
absoluter Hoffnungslosigkeit. Alle drei Personen scheinen in ihrer Kindheit
starke Traumata erlitten zu haben und befinden sich auch in ihrem
Erwachsenenleben in ungünstigen Situationen.
Henry ist nicht nur, wie man am Filmtitel unschwer erkennen
kann, der Hauptcharakter des Films, sondern auch die am stärksten differenzierte
und ambivalenteste Figur, die die meisten Rätsel aufgibt. Henry tritt als
höflicher, stellenweise sogar sehr charismatischer Gentleman auf und ist auf
den ersten Blick keineswegs cholerisch, antisozial oder gewalttätig. Doch das
Brodeln unter der ruhigen Fassade ist allgegenwärtig und wird von Michael
Rooker auf absolut erhabene Weise nach außen getragen. Als er in einer hochgradig
intensiven Szene mit Becky über seine Vergangenheit redet, spricht pure
Verachtung aus dem sonst so zurückhaltenden Henry. Seine Mutter war eine
promiskuöse Alkoholikerin, welche ihren Sohn schlug und ihn dazu zwang,
zuzusehen, wie sie sich mit fremden Männern vergnügte. Oft musste er sogar
Frauenkleider anziehen und sich dem Spott seiner Mutter und ihrer Affären
aussetzen. Offen gesteht er Becky den Mord an seiner Mutter, jedoch behauptet
er zuerst, sie mit einem Messer erstochen zu haben, kurz darauf sagt er jedoch,
er habe es mit einer Schusswaffe getan. Inwiefern er damit von den Ermordungen
der jungen Frauen spricht, die er offenbar stellvertretend für seine Mutter
tötet, ist fraglich. Obwohl angedeutet wird, dass Henry Analphabet ist, ist er
alles andere als dumm. So weiß er genau, wie man beim Töten vorgehen muss um
nicht erwischt zu werden und wie die Behörden ermitteln. Auch scheint sein Hass
auf Frauen auch so etwas wie einen philosophischen Unterbau zu haben, was die
Szene beweist, in der er über seine Weltsicht redet (“It’s either us or them“ ).
Ein zutiefst gestörter, hasserfüllter Charakter, der jedoch in seiner Manie und
Wut sehr viel Zurückhaltung und Kalkül beweist.
Otis neben dem eher sympathischen Henry aus, wie das letzte
Häufchen Elend. Ständig saufend, verwahrlost und offen dumm, erfüllt er das
Klischee des klassischen Hillbillys. Er mordet nicht aus Drang, sondern aus
einer kindlichen Freude heraus, was ihn noch unsympathischer und widerwärtiger
macht, als es sein Erscheinungsbild und sein “normales“ Verhalten ohnehin schon
tun. Er hegt sogar inzestuöse Gefühle gegenüber seiner eigenen Schwester und
hat homosexuelle Neigungen. Jedoch wirkt er eher wie ein entarteter
Zurückgebliebener und nicht wie ein gestörter Serienkiller. Nichtsdestotrotz
ist Otis eine starke Figur, welche im Zusammenspiel mit den anderen
Hauptcharakteren sehr aufblüht und den Film vorantreibt (und das nicht nur als
reiner McGuffin).
Die Dritte im Bunde ist Otis‘ Schwester Becky. Ähnlich wie
Henry stammt sie aus problematischen Verhältnissen und wurde über lange Zeit
von ihrem Vater sexuell missbraucht. Sie ist nicht Täter, sondern Opfer, durch
und durch. In einer kalten Welt voller Gewalt ist sie das einzig empfindsame
Wesen, das zweifelhaft nach Anerkennung ringt. Gerade in Bezug auf das
Frauenbild, welches in “Henry“ vorherrscht, ist sie ein sehr wichtiger
Charakter und quasi der einzige Sympathieträger.
Was die Charaktere verbindet ist ihr Scheitern, ihr Frust
und ihre innere Wut. Dadurch, dass McNaughton seinen Figuren keine Perspektive
gibt, übertragt sich das Gefühl von Wut und Hoffnungslosigkeit auf den
Zuschauer. Die Welt in “Henry“ ist eine, in der Menschenleben nichts wert sind
und die Existenz als solche freudlos ist. Es ist wohl diese filmische
Grundhaltung, die die gezeigte Gewalt so roh und doch beiläufig erscheinen
lässt. Henry und Otis bringen Menschen um, weil sie Menschen umbringen wollen.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Die Opfer haben keinerlei Bedeutung, die
Taten keinerlei Sinn und Zweck. Es sind Aufschreie, die in einer trostlosen,
kaltherzigen Welt verhallen. Die Szenen
sind hart, grausam und sadistisch, doch sind es stets die Welt und die
Vergangenheit der Charaktere, die für das höchste Maß an Betroffenheit beim
Zuschauer sorgen. Gerade aus diesem Grund wäre es grob falsch “Henry“ auf seine
Gewaltdarstellungen zu reduzieren.
Fazit: “Henry – Portrait of a Serial Killer“ genießt seinen
Ruf völlig zurecht. Der Film ist von Anfang an trist, persönlich, deprimierend
und hart. Die Charaktere werden auf geschickte Art herausgearbeitet und
ergänzen sich sehr gut. Der Score und die Darsteller sind fantastisch und die
sehr derben Gewaltszenen reihen sich perfekt in das menschenverachtende
Gesamtbild ein, welches “Henry“ auch nach diesen vielen Jahren noch zu einem
der besten Serienmörderfilme macht.
Zur DVD: Bildstörung veröffentlicht Henry auf DVD und
erstmals auch auf Blu Ray inklusive einer sehr spannenden Bonus DVD, welche neben
Making Ofs, Interviews und co auch auf die Zensurgeschichte in England eingeht.
Für Fans die perfekte Edition dieses Films, selbst Besitzer der alten LP
Auflage können sich Gedanken über einen Neukauf machen.
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