Mittwoch, 2. April 2014

SPECIAL: ABGRÜNDIGE MÄRCHEN - KERASCOETS "SCHÖNHEIT" UND "JENSEITS"





Die Geschichten und Illustrationen des französischen Comiczeichners Kerascoet bestechen durch eine kindliche Schönheit, hinter der sich jedoch mitunter ein sehr realistisches und boshaftes Antlitz versteckt. Seine beiden Grapic Novels „Schönheit“ und „Paradies“ wirken wie Märchen der Gebrüder Grimm und erzählen Geschichten voller Herzlichkeit und Verzückung, doch trotz der offensichtlich dargestellten Unschuld, brodelt Böses unter der Oberfläche. Ebenso wie die Geschichten, schwanken auch die Zeichnungen zwischen simpler Cartoonhaftigkeit und künstlerischem Detailreichtum, was sein Werk in einer beachtlichen Vielfalt erstrahlen lässt.



Die dreiteilige Geschichte „Schönheit“ handelt von der einfachen Magd Morue, welche sehr unter ihrem hässlichen Äußeren leidet. Sie startet als Aschenputtel, die täglich erniedrigt und als Haussklavin gehalten wird. Ihr Glück dreht sich, als sie eine Träne des Mitleids über eine Kröte vergießt, welche sich daraufhin in die Fee Mab verwandelt. Diese belegt sie mit einem Zauber, der sie in den Augen aller anderen Menschen wunderschön erscheinen lässt. Nachdem die anderen Frauen des Dorfes Morue aus Neid vertreiben, wobei ihre Mutter zu Tode kommt, findet sie Unterschlupf beim Fürsten Eudes. Obwohl die beiden sehr glücklich sind, redet Mab ihr ein, dass sie Besseres verdient habe und so macht Eudes sich nach einem Streit auf um Reichtum zu erlangen. Die Beziehung zerbricht und Morue, welche ab sofort nur noch „Schönheit“ genannt wird, wird die Frau des Königs. Doch als ein Krieg zwischen dem Königreich des Nordens und dem des Südens ausbricht, offenbart sich immer mehr, dass die neugewonnene Schönheit mehr Fluch als Segen ist.
„Paradies“ erzählt die Geschichte von Aurora, Hektor und Plim, welche während eines gemütlichen Imbisses in einen schleimigen Tunnel katapultiert werden und als winzig kleine Wesen am anderen Ende herauskommen. Sie nisten sich um die Leiche eines toten Mädchens ein und leben in einer Gemeinschaft mit den Tieren des Waldes und anderen Winzlingen. Doch mit der Zeit stellt sich heraus, dass Zwietracht unter den kleinen Lebewesen und Probleme mit den Tieren das harmonische Zusammenleben auf Dauer gefährden. 




Von beiden Werken ist „Paradies“ sicherlich das abstraktere und rätselhaftere. Die Ausgangssituation wird nicht erklärt, sondern geschieht mehr oder weniger einfach und die Handlung verläuft sich in zig Episoden, welche stellenweise nur eine Seite lang sind. Dennoch gibt es einige rote Fäden, welche sich durch die gesamte Geschichte ziehen. So ist zum Beispiel die Romanze zwischen Hektor und Aurora ein Thema, welches sich lange hält, selbiges gilt für die Intrigen der eingebildeten Stella. Doch gerade in diesen losen Handlungssträngen und der daraus resultierenden Sprunghaftigkeit liegt der Reiz von „Paradies“, da es den außerweltlichen Charakter des Graphic Novels gekonnt unterstützt und genau die richtige Mischung aus Vielfalt und Handlung erzeugt, um ein solches Werk zu tragen.
Während die Wirkung von „Paradies“ auf einem bewusst vagen Geschehen beruht, zeichnet sich „Schönheit“ durch eine durchgehende Handlung und die Entwicklung von klar strukturierten Charakteren aus. Die drei einzelnen Abschnitte wirken wie drei separate Märchen, welche allesamt durch Morue bzw Schönheit und ihr neugewonnenes, wundervolles Äußeres verbunden werden. Trotz der verhältnismäßigen Eigenständigkeit der jeweiligen Kapitel, stehen die Abenteuer, die Morues Schönheit - bzw. die daraus resultierenden Verehrer - ihr beschert immer im Vordergrund und diese zeichnen sich durch bemerkenswerte Veränderungen aus. Vor allem die Tage, die sie als Königin verbringt, stellen einen sehr interessanten Wendepunkt in ihrer Geschichte dar, da sie mit den Früchten ihrer Schönheit sichtlich überfordert ist und weltfremd wird. Insofern kann man von einer konstant voranschreitenden, von Fort- und Rückschritten geprägten Weiterentwicklung sprechen, deren verschiedene Stadien sich zu einem sehr märchenhaften und doch tiefen Gesamtbild zusammenfinden. Neben dem Reifeprozess der Heldin verleihen auch die Nebencharaktere und -handlungen „Schönheit“ die nötige Vielfalt um als komplexes und narrativ erwachsenes Werk bestehen zu können. 



Kerascoets Werke wirken wie Fabeln aus vergangenen Zeiten. Dies ist natürlich bedingt durch die märchenhaften Figuren und Situationen, welche in beiden Graphic Novels allgegenwärtig sind. Sowohl „Schönheit“ als auch „Jenseits“ schildern relativ bodenständige Handlungsverläufe, welche aber auf übernatürlichen Begebenheiten beruhen. Die Ausgangssituationen sind jeweils klassischer Märchenstoff, doch in diesem „unrealistischen“ Rahmen spielen sich eher realistische und charakterbezogene Konflikte ab – eine Mischung, die unaufdringlich und ansprechend zugleich ist.

Hierbei beruht ein Großteil der daraus resultierenden Wirkung auf einer sehr traditionellen und klassischen Ästhetik. Gerade die kindliche Schönheit der weiblichen Hauptcharaktere und die Darstellung ihrer unschuldigen, niedlichen Art erweisen sich hier als sehr wirkungsvoll, sodass man von einer sehr dezenten, erotischen Aufladung sprechen kann, welche aber mehr auf Suggestion beruht. Bei „Schönheit“ tritt dieser Aspekt in einer unterschwellig sexuellen Art zu Tage, da Morue nach ihrer Verwandlung offen begehrt und z.B. auch entkleidet oder beim Liebesspiel gezeigt wird. Ebenso vermögen die Szenarien und klassischen Ritterthemen ebenso einiges an Atmosphäre zu übermitteln, ohne jedoch kitschig oder ideenlos zu wirken. Ironisch ist, dass das eigentlich makaberere Buch „Jenseits“ eine viel kindgerechtere und asexuellere Interpretation von Schönheit bietet. Die Herangehensweise ist um einiges träumerischer und weniger ernst. Obwohl auch hier romantische Themen eine Rolle spielen, liegt das Hauptaugenmerk eher auf den harmonischen und stellenweise drolligen Situationen, mit denen sich die geschrumpften Menschen herumschlagen müssen, sodass man sich stellenweise an klassische Kindergeschichten erinnert fühlt. 



Doch gerade diese unschuldigen Aspekte von „Jenseits“ sind ein gutes Beispiel für die andere Seite der Medaille: die Vermischung von Gut und Böse. Trotz der oben beschriebenen Unschuld von „Jenseits“ findet das Treiben um die verwesende Leiche eines kleinen Mädchens statt. Der Kontrast zwischen den nett anzusehenden Geschichten und der Fäulnis, zwischen der sie sich ereignen, ist mehr als nur unterschwellig morbide. Ebenso gibt es auch einige verhältnismäßig deftige Gewaltszenen zwischen den Menschen und den Tieren, in denen z.B. ein Frosch einen Menschen verspeist und Aurora einer Maus die Augen herauskratzt. Hierbei kann der Ton von einem Bild auf das andere umschlagen, was ein nicht unangenehmes Gefühl von schizoider Ästhetikverirrung aufkommen lässt. Dies ist – natürlich – gewollt und verträgt sich sehr gut mit den sehr lose beschriebenen Handlungen und stellenweise undurchsichtigen Charakteren. Dieser Dualismus ist auch bei „Schönheit“ zu verzeichnen, wo er (passend zu der allgemein verschiedenen Herangehensweise) etwas konkreter und direkter angesprochen wird. Die stärkste Repräsentation dieses Zwiespalts ist zugleich die Crux des Dilemmas, nämlich die Transformation Morues. Ihre Schönheit beschwört den Tod ihrer Mutter, Krieg und Zwietracht. Stellenweise wird sie sogar als Verfluchte wahrgenommen, die den Untergang jedes Mannes herbeiführt, der ihr verfällt. Der größte Wunsch ist also zeitgleich auch ein schrecklicher Fluch. Dieses subtile Spiel mit Sein und Schein zeigt sich z.B. auch in den Charakteren der bösen Feen, welche – ebenso wie es im gesamten Diskurs der Fall ist – sehr schleichend ihr wahres Gesicht offenbaren. Gerade das Unforcierte daran macht es so wirkungsvoll. Kerascoet betreibt eine Gratwanderung, die durch sein beachtliches Können auf beide Arten sehr gut funktioniert.



Es ist nicht verwunderlich, dass sich der Zeichenstil den jeweiligen Geschichten und oben besprochenen Themen sehr gut anzupassen vermag. Kerascoet malt simplistisch cartoonhaft und dennoch detailliert, was zum einen sehr schön anzusehen ist, andererseits aber auch genug Raum für die Handlung lässt. „Jenseits“ ist pastellfarbener und wirkt mit seiner verwascheneren Strichführung etwas surrealer und „künstlerischer“, wohingegen „Schönheit“ schärfere und einfachere Bilder zu bieten hat, welche sich aber gerade in Wald- und Burgszenen als sehr stark erweisen. Trotz dieser marginalen Unterschiede herrscht eindeutig die selbe Handschrift vor, was natürlich ebenso für die jeweiligen Werke in ihrer Gesamtheit gilt.

Fazit: „Schönheit“ und „Jenseits“ sind starke Graphic Novels. Gekonnt springen sie zwischen kindlich schön und garstig hin und her und bewahren dabei eine sehr starke Identität. Die Handlungen sind durchdacht und werden von den sehr schönen Zeichnungen sehr gut vorangetrieben. Sowohl inhaltlich als auch optisch sind die beiden Bücher hochgradig interessant, was vor allem an Kerascoets Fähigkeit, feinfühlig Gut und Böse verschwimmen zu lassen, liegt. Für Kunst- und Comicfreunde ein echter Geheimtipp!

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