Die Geschichten und
Illustrationen des französischen Comiczeichners Kerascoet bestechen
durch eine kindliche Schönheit, hinter der sich jedoch mitunter ein
sehr realistisches und boshaftes Antlitz versteckt. Seine beiden
Grapic Novels „Schönheit“ und „Paradies“ wirken wie Märchen
der Gebrüder Grimm und erzählen Geschichten voller Herzlichkeit und
Verzückung, doch trotz der offensichtlich dargestellten Unschuld,
brodelt Böses unter der Oberfläche. Ebenso wie die Geschichten,
schwanken auch die Zeichnungen zwischen simpler Cartoonhaftigkeit und
künstlerischem Detailreichtum, was sein Werk in einer beachtlichen
Vielfalt erstrahlen lässt.
Die dreiteilige Geschichte
„Schönheit“ handelt von der einfachen Magd Morue, welche sehr
unter ihrem hässlichen Äußeren leidet. Sie startet als
Aschenputtel, die täglich erniedrigt und als Haussklavin gehalten
wird. Ihr Glück dreht sich, als sie eine Träne des Mitleids über
eine Kröte vergießt, welche sich daraufhin in die Fee Mab
verwandelt. Diese belegt sie mit einem Zauber, der sie in den Augen
aller anderen Menschen wunderschön erscheinen lässt. Nachdem die
anderen Frauen des Dorfes Morue aus Neid vertreiben, wobei ihre
Mutter zu Tode kommt, findet sie Unterschlupf beim Fürsten Eudes.
Obwohl die beiden sehr glücklich sind, redet Mab ihr ein, dass sie
Besseres verdient habe und so macht Eudes sich nach einem Streit auf
um Reichtum zu erlangen. Die Beziehung zerbricht und Morue, welche ab
sofort nur noch „Schönheit“ genannt wird, wird die Frau des
Königs. Doch als ein Krieg zwischen dem Königreich des Nordens und
dem des Südens ausbricht, offenbart sich immer mehr, dass die
neugewonnene Schönheit mehr Fluch als Segen ist.
„Paradies“ erzählt
die Geschichte von Aurora, Hektor und Plim, welche während eines
gemütlichen Imbisses in einen schleimigen Tunnel katapultiert werden
und als winzig kleine Wesen am anderen Ende herauskommen. Sie nisten
sich um die Leiche eines toten Mädchens ein und leben in einer
Gemeinschaft mit den Tieren des Waldes und anderen Winzlingen. Doch
mit der Zeit stellt sich heraus, dass Zwietracht unter den kleinen
Lebewesen und Probleme mit den Tieren das harmonische Zusammenleben
auf Dauer gefährden.
Von beiden Werken ist
„Paradies“ sicherlich das abstraktere und rätselhaftere. Die
Ausgangssituation wird nicht erklärt, sondern geschieht mehr oder
weniger einfach und die Handlung verläuft sich in zig Episoden,
welche stellenweise nur eine Seite lang sind. Dennoch gibt es einige
rote Fäden, welche sich durch die gesamte Geschichte ziehen. So ist
zum Beispiel die Romanze zwischen Hektor und Aurora ein Thema,
welches sich lange hält, selbiges gilt für die Intrigen der
eingebildeten Stella. Doch gerade in diesen losen Handlungssträngen
und der daraus resultierenden Sprunghaftigkeit liegt der Reiz von
„Paradies“, da es den außerweltlichen Charakter des Graphic
Novels gekonnt unterstützt und genau die richtige Mischung aus
Vielfalt und Handlung erzeugt, um ein solches Werk zu tragen.
Während die Wirkung von
„Paradies“ auf einem bewusst vagen Geschehen beruht, zeichnet
sich „Schönheit“ durch eine durchgehende Handlung und die
Entwicklung von klar strukturierten Charakteren aus. Die drei
einzelnen Abschnitte wirken wie drei separate Märchen, welche
allesamt durch Morue bzw Schönheit und ihr neugewonnenes,
wundervolles Äußeres verbunden werden. Trotz der verhältnismäßigen
Eigenständigkeit der jeweiligen Kapitel, stehen die Abenteuer, die
Morues Schönheit - bzw. die daraus resultierenden Verehrer - ihr
beschert immer im Vordergrund und diese zeichnen sich durch
bemerkenswerte Veränderungen aus. Vor allem die Tage, die sie als
Königin verbringt, stellen einen sehr interessanten Wendepunkt in
ihrer Geschichte dar, da sie mit den Früchten ihrer Schönheit
sichtlich überfordert ist und weltfremd wird. Insofern kann man von
einer konstant voranschreitenden, von Fort- und Rückschritten
geprägten Weiterentwicklung sprechen, deren verschiedene Stadien
sich zu einem sehr märchenhaften und doch tiefen Gesamtbild
zusammenfinden. Neben dem Reifeprozess der Heldin verleihen auch die
Nebencharaktere und -handlungen „Schönheit“ die nötige Vielfalt
um als komplexes und narrativ erwachsenes Werk bestehen zu können.
Kerascoets Werke wirken
wie Fabeln aus vergangenen Zeiten. Dies ist natürlich bedingt durch
die märchenhaften Figuren und Situationen, welche in beiden Graphic
Novels allgegenwärtig sind. Sowohl „Schönheit“ als auch
„Jenseits“ schildern relativ bodenständige Handlungsverläufe,
welche aber auf übernatürlichen Begebenheiten beruhen. Die
Ausgangssituationen sind jeweils klassischer Märchenstoff, doch in
diesem „unrealistischen“ Rahmen spielen sich eher realistische
und charakterbezogene Konflikte ab – eine Mischung, die
unaufdringlich und ansprechend zugleich ist.
Hierbei beruht ein
Großteil der daraus resultierenden Wirkung auf einer sehr
traditionellen und klassischen Ästhetik. Gerade die kindliche
Schönheit der weiblichen Hauptcharaktere und die Darstellung ihrer
unschuldigen, niedlichen Art erweisen sich hier als sehr
wirkungsvoll, sodass man von einer sehr dezenten, erotischen
Aufladung sprechen kann, welche aber mehr auf Suggestion beruht. Bei
„Schönheit“ tritt dieser Aspekt in einer unterschwellig
sexuellen Art zu Tage, da Morue nach ihrer Verwandlung offen begehrt
und z.B. auch entkleidet oder beim Liebesspiel gezeigt wird. Ebenso
vermögen die Szenarien und klassischen Ritterthemen ebenso einiges
an Atmosphäre zu übermitteln, ohne jedoch kitschig oder ideenlos zu
wirken. Ironisch ist, dass das eigentlich makaberere Buch „Jenseits“
eine viel kindgerechtere und asexuellere Interpretation von Schönheit
bietet. Die Herangehensweise ist um einiges träumerischer und
weniger ernst. Obwohl auch hier romantische Themen eine Rolle
spielen, liegt das Hauptaugenmerk eher auf den harmonischen und
stellenweise drolligen Situationen, mit denen sich die geschrumpften
Menschen herumschlagen müssen, sodass man sich stellenweise an
klassische Kindergeschichten erinnert fühlt.
Doch gerade diese
unschuldigen Aspekte von „Jenseits“ sind ein gutes Beispiel für
die andere Seite der Medaille: die Vermischung von Gut und Böse.
Trotz der oben beschriebenen Unschuld von „Jenseits“ findet das
Treiben um die verwesende Leiche eines kleinen Mädchens statt. Der
Kontrast zwischen den nett anzusehenden Geschichten und der Fäulnis,
zwischen der sie sich ereignen, ist mehr als nur unterschwellig
morbide. Ebenso gibt es auch einige verhältnismäßig deftige
Gewaltszenen zwischen den Menschen und den Tieren, in denen z.B. ein
Frosch einen Menschen verspeist und Aurora einer Maus die Augen
herauskratzt. Hierbei kann der Ton von einem Bild auf das andere
umschlagen, was ein nicht unangenehmes Gefühl von schizoider
Ästhetikverirrung aufkommen lässt. Dies ist – natürlich –
gewollt und verträgt sich sehr gut mit den sehr lose beschriebenen
Handlungen und stellenweise undurchsichtigen Charakteren. Dieser
Dualismus ist auch bei „Schönheit“ zu verzeichnen, wo er
(passend zu der allgemein verschiedenen Herangehensweise) etwas
konkreter und direkter angesprochen wird. Die stärkste
Repräsentation dieses Zwiespalts ist zugleich die Crux des Dilemmas,
nämlich die Transformation Morues. Ihre Schönheit beschwört den
Tod ihrer Mutter, Krieg und Zwietracht. Stellenweise wird sie sogar
als Verfluchte wahrgenommen, die den Untergang jedes Mannes
herbeiführt, der ihr verfällt. Der größte Wunsch ist also
zeitgleich auch ein schrecklicher Fluch. Dieses subtile Spiel mit
Sein und Schein zeigt sich z.B. auch in den Charakteren der bösen
Feen, welche – ebenso wie es im gesamten Diskurs der Fall ist –
sehr schleichend ihr wahres Gesicht offenbaren. Gerade das
Unforcierte daran macht es so wirkungsvoll. Kerascoet betreibt eine
Gratwanderung, die durch sein beachtliches Können auf beide Arten
sehr gut funktioniert.
Es ist nicht
verwunderlich, dass sich der Zeichenstil den jeweiligen Geschichten
und oben besprochenen Themen sehr gut anzupassen vermag. Kerascoet
malt simplistisch cartoonhaft und dennoch detailliert, was zum einen
sehr schön anzusehen ist, andererseits aber auch genug Raum für die
Handlung lässt. „Jenseits“ ist pastellfarbener und wirkt mit
seiner verwascheneren Strichführung etwas surrealer und
„künstlerischer“, wohingegen „Schönheit“ schärfere und
einfachere Bilder zu bieten hat, welche sich aber gerade in Wald- und
Burgszenen als sehr stark erweisen. Trotz dieser marginalen
Unterschiede herrscht eindeutig die selbe Handschrift vor, was
natürlich ebenso für die jeweiligen Werke in ihrer Gesamtheit gilt.
Fazit: „Schönheit“
und „Jenseits“ sind starke Graphic Novels. Gekonnt springen sie
zwischen kindlich schön und garstig hin und her und bewahren dabei
eine sehr starke Identität. Die Handlungen sind durchdacht und
werden von den sehr schönen Zeichnungen sehr gut vorangetrieben.
Sowohl inhaltlich als auch optisch sind die beiden Bücher hochgradig
interessant, was vor allem an Kerascoets Fähigkeit, feinfühlig Gut
und Böse verschwimmen zu lassen, liegt. Für Kunst- und Comicfreunde
ein echter Geheimtipp!
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