Freitag, 22. November 2013

REVIEW: DIE HURE H WIRFT DEN HANDSCHUH (Reprodukt, 2012)





Eine junge Frau, welche „die Hure H“ genannt wird, zieht einsam durch verzerrte Welten und erlebt dort eine Vielzahl von obskuren Abenteuern. In „Leuchtturm“ findet die Hure H in einem Leuchtturm bei einem „großen, modernen Mann“ Unterschlupf. „Kohlenhof“ spielt in einem schmutzigen, fabrikartigen Kohlenhof, in dem H einen Mann aufsucht, der ihr eigentlich den Hof machen wollte, sie aber seltsamerweise ignoriert. In „Ballsaal“ steigt die Hure H in einen verlassenen Ballsaal hinab.





„Die Hure H wirft ihren Handschuh“ ist die dritte und bisher letzte Veröffentlichung innerhalb des Hure H Universums, welches ein Gemeinschaftsprojekt von Anke Feuchtenberger (Illustration) und Katrin de Vries (Text) darstellt. Die wortkarge Graphic Novel zeichnet sich vor allem durch eine minimalistische Handlung und einen ausgereiften, atmosphärischen Stil aus.




Zunächst einmal ist der Zeichenstil bzw. die Welt, die aus ihm resultiert, hervorzuheben. Schwere Schattierungen bestimmen die Bleistiftzeichnungen. Alles ist dunkel, düster, krumm und dennoch beschreiben die Linien treffsicher. Man könnte sicherlich ein surreales, außerweltliches Setting ala „The Call of Cthulhu“ erkennen, wenn man es denn möchte, jedoch ist es um einiges geschickter in Feuchtenbergers Illustrationen eher eine etwas simplistische, leere, aber dennoch wirklichkeitsgetreue Welt zu sehen, die durch die heftigen, allesumfassenden Schattierungen in eine erdrückende Schwärze gehüllt wird. Zumindest gilt dies für den Großteil des Werkes, denn gewisse Darstellungen sind definitiv nicht in der normalen Realität angesiedelt. So mutet zum Beispiel der Ballsaal wie eine finstere, verlassene Interpretation eines Dali Gemäldes an. Die Welt, in der die Handlungen angesiedelt sind, dient nicht nur dem ästhetischen Genuss, sondern ist Handlungsort und handlungstragender Charakter zugleich. Die Leere, die allen Szenarien innewohnt, die Weiten, die Schattenspiele, alles ist eng verknüpft mit den jeweiligen Handlungssträngen und den Motiven, welche man , trotz der eher vagen Angaben, ableiten kann.





Umgekehrt spiegeln auch die Charaktere in der graphischen Novelle die Welt wieder. Die Hure H und die anderen „Mitstreiter“ sind krude bis kindlich gezeichnet, doch spiegeln in ihren starren Ausdrücken so viel mehr wieder, als man es auf den ersten Blick erwarten würde. Vor allem in der Interaktion mit der Umwelt blühen die Charaktere auf und tragen auf sehr geschickte Weise zum Gesamtbild bei. Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass die Charaktere absichtlich so oberflächlich gehalten wurden, dass man kaum Beweggründe erkennen kann. Die emotionslosen, unerklärlichen Figuren verstärken das befremdliche, kalte Gefühl, das in der Novelle omnipräsent ist. Die Hure H bewegt sich durch autistische Storylines voll gescheiterter Kommunikation und wird von einer irrationalen Sehnsucht getrieben, welche zwar nie geäußert wird, aber durchgehend spürbar ist. 





Interessant ist hierbei, wie sehr die Hure H als Lustobjekt gesehen wird. So gewährt der „große, moderne Mann“, welcher wohl das direkteste Phallussymbol seit dem Phallus selbst ist, ihr z.B. erst Eintritt, als sie ihren Schambereich vor ihm entblößt. Ein Arbeiter, der ihr eigentlich den Hof machen wollte, ignoriert sie grundlos. Sie existiert lediglich in ihrer Rolle als „Hure“ bzw. als „Suchende“ und wird auch lediglich als solche wahrgenommen. Obwohl die beiden kreativen Köpfe hinter dem Band weiblich sind und sich somit eine Genderdebatte anböte, wird diese aufgrund ihrer Sinnlosigkeit weggelassen. Sicherlich ist „Die Hure H wirft den Handschuh“ keine Projektionsfläche für feministische Theorien oder eine Kampfansage an das Patriarchat. Vielmehr stecken existenzielle Probleme hinter den kryptischen Geschichten und Szenarien. Ein durchgehendes Gefühl von Trauer und Enttäuschung, eine schwere Melancholie und eine bedrückende Uferlosigkeit sind die Stärken der Geschichte, was durch die sehr knappen Texte sehr gut zur Geltung kommt. Sicherlich gibt es viele Interpretationsmöglichkeiten. Doch die „Conditio Humana“ als Ausgangssituation zu holen ist wohl der beste Ansatz um die bedrückende, aussagekräftige Graphic Novel am ehesten zu verstehen und ihr die größtmögliche Entfaltungsmöglichkeit zu bieten.



Fazit: „Die Hure H wirft den Handschuh“ ist ein düsterer, surrealer Trip durch karge Landschaften und noch kargere Gefühlswelten. Optisch ein Hochgenuss, inhaltlich höchst polyvalent und dennoch so haargenau abgeschmeckt, dass man genau weiß, was gesagt werden möchte, ohne dass es gesagt wird. Wer ein extrem hohes Maß an befremdlichen, undurchsichtigen Szenarien als Kaufgrund ansieht, der sollte mit „Die Hure H wirft den Handschuh“ absolut nichts falsch machen. Ein gelungener und absolut authentischer, intensiver Comic. Wegen seiner grandiosen Optik auch (bzw. vor allem) für Kunstfreunde eine reine Wonne.

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