Eine junge Frau, welche „die Hure H“ genannt wird, zieht
einsam durch verzerrte Welten und erlebt dort eine Vielzahl von obskuren
Abenteuern. In „Leuchtturm“ findet die Hure H in einem Leuchtturm bei einem
„großen, modernen Mann“ Unterschlupf. „Kohlenhof“ spielt in einem schmutzigen,
fabrikartigen Kohlenhof, in dem H einen Mann aufsucht, der ihr eigentlich den
Hof machen wollte, sie aber seltsamerweise ignoriert. In „Ballsaal“ steigt die
Hure H in einen verlassenen Ballsaal hinab.
„Die Hure H wirft ihren Handschuh“ ist die dritte und bisher
letzte Veröffentlichung innerhalb des Hure H Universums, welches ein
Gemeinschaftsprojekt von Anke Feuchtenberger (Illustration) und Katrin de Vries
(Text) darstellt. Die wortkarge Graphic Novel zeichnet sich vor allem durch
eine minimalistische Handlung und einen ausgereiften, atmosphärischen Stil aus.
Zunächst einmal ist der Zeichenstil bzw. die Welt, die aus
ihm resultiert, hervorzuheben. Schwere Schattierungen bestimmen die
Bleistiftzeichnungen. Alles ist dunkel, düster, krumm und dennoch beschreiben
die Linien treffsicher. Man könnte sicherlich ein surreales, außerweltliches
Setting ala „The Call of Cthulhu“ erkennen, wenn man es denn möchte, jedoch ist
es um einiges geschickter in Feuchtenbergers Illustrationen eher eine etwas
simplistische, leere, aber dennoch wirklichkeitsgetreue Welt zu sehen, die
durch die heftigen, allesumfassenden Schattierungen in eine erdrückende
Schwärze gehüllt wird. Zumindest gilt dies für den Großteil des Werkes, denn
gewisse Darstellungen sind definitiv nicht in der normalen Realität
angesiedelt. So mutet zum Beispiel der Ballsaal wie eine finstere, verlassene
Interpretation eines Dali Gemäldes an. Die Welt, in der die Handlungen
angesiedelt sind, dient nicht nur dem ästhetischen Genuss, sondern ist
Handlungsort und handlungstragender Charakter zugleich. Die Leere, die allen
Szenarien innewohnt, die Weiten, die Schattenspiele, alles ist eng verknüpft
mit den jeweiligen Handlungssträngen und den Motiven, welche man , trotz der eher
vagen Angaben, ableiten kann.
Umgekehrt spiegeln auch die Charaktere in der graphischen
Novelle die Welt wieder. Die Hure H und die anderen „Mitstreiter“ sind krude
bis kindlich gezeichnet, doch spiegeln in ihren starren Ausdrücken so viel mehr
wieder, als man es auf den ersten Blick erwarten würde. Vor allem in der
Interaktion mit der Umwelt blühen die Charaktere auf und tragen auf sehr
geschickte Weise zum Gesamtbild bei. Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass
die Charaktere absichtlich so oberflächlich gehalten wurden, dass man kaum
Beweggründe erkennen kann. Die emotionslosen, unerklärlichen Figuren verstärken
das befremdliche, kalte Gefühl, das in der Novelle omnipräsent ist. Die Hure H
bewegt sich durch autistische Storylines voll gescheiterter Kommunikation und
wird von einer irrationalen Sehnsucht getrieben, welche zwar nie geäußert wird,
aber durchgehend spürbar ist.
Interessant ist hierbei, wie sehr die Hure H als Lustobjekt
gesehen wird. So gewährt der „große, moderne Mann“, welcher wohl das direkteste
Phallussymbol seit dem Phallus selbst ist, ihr z.B. erst Eintritt, als sie
ihren Schambereich vor ihm entblößt. Ein Arbeiter, der ihr eigentlich den Hof
machen wollte, ignoriert sie grundlos. Sie existiert lediglich in ihrer Rolle
als „Hure“ bzw. als „Suchende“ und wird auch lediglich als solche wahrgenommen.
Obwohl die beiden kreativen Köpfe hinter dem Band weiblich sind und sich somit
eine Genderdebatte anböte, wird diese aufgrund ihrer Sinnlosigkeit weggelassen.
Sicherlich ist „Die Hure H wirft den Handschuh“ keine Projektionsfläche für
feministische Theorien oder eine Kampfansage an das Patriarchat. Vielmehr stecken
existenzielle Probleme hinter den kryptischen Geschichten und Szenarien. Ein durchgehendes
Gefühl von Trauer und Enttäuschung, eine schwere Melancholie und eine
bedrückende Uferlosigkeit sind die Stärken der Geschichte, was durch die sehr
knappen Texte sehr gut zur Geltung kommt. Sicherlich gibt es viele
Interpretationsmöglichkeiten. Doch die „Conditio Humana“ als Ausgangssituation
zu holen ist wohl der beste Ansatz um die bedrückende, aussagekräftige Graphic
Novel am ehesten zu verstehen und ihr die größtmögliche Entfaltungsmöglichkeit
zu bieten.
Fazit: „Die Hure H wirft den Handschuh“ ist ein düsterer,
surrealer Trip durch karge Landschaften und noch kargere Gefühlswelten. Optisch
ein Hochgenuss, inhaltlich höchst polyvalent und dennoch so haargenau
abgeschmeckt, dass man genau weiß, was gesagt werden möchte, ohne dass es
gesagt wird. Wer ein extrem hohes Maß an befremdlichen, undurchsichtigen
Szenarien als Kaufgrund ansieht, der sollte mit „Die Hure H wirft den Handschuh“
absolut nichts falsch machen. Ein gelungener und absolut authentischer, intensiver
Comic. Wegen seiner grandiosen Optik auch (bzw. vor allem) für Kunstfreunde
eine reine Wonne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen