Zwei junge Mädchen, welche beide den
Namen Marie tragen, stellen fest, dass ihre Gliedmaßen bei jeder
Bewegung ein laut hörbares Knirschen abgeben. Hierbei bemerken sie
auch, dass die Welt schlecht und verdorben ist und beschließen
kurzerhand, ihr Verhalten ebenso moralisch fragwürdig zu gestalten.
Also geben sie sich der absoluten Verlotterung und dem Exzess hin,
wobei ihr Handeln nach und nach immer rücksichtsloser wird.
Der tschechische Film
„Tausendschönchen“ (Originaltitel: Sedmikrásky) ist eines jener
Werke, welches eine sehr starke, historische Hintergrundgeschichte
haben. Die 1929 geborene und erst dieses Jahr verstorbene Vêra
Chytilová drehte den Film im Jahre 1966 in der Tschechoslowakei,
welche zu dieser Zeit noch eine kommunistische Diktatur war. Da die
Regisseurin mit ihrem Werk gegen so ziemlich alle Konventionen
verstößt, welche man in einer solch totalitären Staatsform
vorfindet, überrascht es kaum, dass der Film beschlagnahmt und
Chytilová zeitweise sogar verboten wurde, ihrem Beruf als
Filmemacherin nachzugehen. Und tatsächlich offenbart der auf den
ersten Blick eher konfus daherkommende „Tausendschönchen“ bei
genauerer Betrachtung einige für damalige Verhältnisse wirklich
subversive und anstößige (?) Nuancen, welche im soziopolitischen
Kontext wirklich Aussagekraft besitzen. Vielleicht ist gerade dieses
vermeintliche seiner-Zeit-voraus-sein der Grund dafür, dass der Film
außerhalb seiner Landesgrenzen und Jahrzehnte nach seiner Entstehung
ein hohes Maß an Anerkennung bekommen hat und die Regisseurin sogar
mit einigen Preisen ausgezeichnet wurde, zum Beispiel mit dem Silver
Hugo.
Wie man es von Filmen dieser Art nicht
anders gewohnt ist, ist der Aufbau von „Tausendschönchen“ extrem
weit weg von allem, was man vom klassischen Erzählkino gewohnt ist.
Eine durchgehende Handlung existiert nicht, vielmehr ist der Film
eine Art Episoden bzw. Schnipselsammlung, deren einzelne Szenen sich
zwar ähnlich sind, aber nicht wirklich durch einen roten Faden
verbunden werden. Dieser Erzählstil verleiht dem Film eine wirre und
rebellische Aura, welche sich wiederum extrem gut mit dem Inhalt
widerspiegelt und ein gutes Beispiel für das „keine Form ohne
Inhalt, kein Inhalt ohne Form“ Prinzip ist. Ebenso abgehackt wie
die Handlung und der Schnitt sind die einzelnen Szenen selbst. Die
beiden Maries schlemmen, betrinken und zoffen sich und lassen sich
regelmäßig von bourgeoisen, offensichtlich an sexuellen Abenteuern
interessierten Männern ausführen, um sie dann später
abzuservieren. Die beiden Hauptcharaktere tragen den gesamten Film,
sind allgegenwärtig und wirken auf eine fast schon kindliche Art
überdreht, in höchstem Maße belebt und schräg, sodass das gesamte
Geschehen sehr charmant und rasant wirkt, ohne jemals wirklich zu
langweilen. Hier profitiert das Werk durch und durch von seiner
schnelllebigen Technik.
So schnell und aufgedreht wie seine
beiden Charaktere ist auch der visuelle Stil von „Tausendschönchen“.
Vor allem das Spiel mit Farbe und Bewegung ist ein elementarer Aspekt
des Films, welcher auch stets sehr vordergründig und offensiv
auftritt. So erstrahlt das Bild von einer Sekunde auf die andere in
einem knalligen Gelb und dann wieder in schwarz weiß.
Zwischenschnitte auf altes, verrottetes Metall und eine grandiose
Szene, in der die blonde Marie ihr Geschlechtsteil mit einem Bild von
einem Schmetterling verdeckt sind nur wenige Beispiele für den
süffisanten und subtilen Symbolismus, welcher dezent, doch
durchgängig eingesetzt wird. Ebenso farbenfroh und durchgeknallt ist
die Erscheinung der Maries selbst, welche stellenweise aussehen wie
noble Damen und anderweitig herumlaufen wie bunt angemalte
Punkerinnen. Gerade letzteres ist wohl so etwas wie Schlüsselwort-
bzw. Konzept, denn auch das Verhalten der beiden ist das von
klassischen Rebellen. „Tausendschönchen“ wirkt wie ein einziges
Loblied auf Dekadenz, Völlerei und Querulantentum. Die Maries
rauchen, trinken, klauen und legen sich ins Zeug, um genauso
verdorben zu sein, wie die Welt es in ihren Augen ist. Interessant
ist jedoch, dass ein gewisser kindlicher Charme nie abhanden kommt
und die Hauptdarstellerinnen wirklich unschuldig wirken, im Gegensatz
zu den Charakteren in solchen Filmen wie „Und erlöse uns nicht von
dem Bösen“. Dennoch spielt Sexualität eine starke unterschwellige
Rolle in „Tausendschönchen“. Obwohl die Maries eher asexuell zu
sein scheinen, werden sie von den oben beschriebenen Männern
lediglich als Sexobjekte gesehen, was sie natürlich schamlos
ausnutzen, um ihren hedonistischen Trieben nachzugehen und die Männer
schlussendlich alleine mit der Bahn wegzuschicken. Das vermittelte
Geschlechter- und Gesellschaftsbild dürfte relativ eindeutig sein
und keiner weiteren Beschreibung bedürfen.
Doch auch abseits des anarchischen
Feminismus, gibt es philosophisch und artistisch Relevantes
auszumachen. Obwohl die Gesellschafts- und Geschlechterrollenkritik
sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist, ist sie im Gesamtbild
nicht penetrant genug, um anders gearteten Zuschauern den Filmgenuss
madig zu machen. Die grotesken Handlungen und Szenen, allen voran zum
Beispiel die Szene in denen die beiden mit Scheren Bilder
zerschneiden und sich ihre Köpfe meterweit neben ihren Körpern
bewegen tragen sehr viel zum unschuldig-schrägen Hedonismus der
beiden bei und hier und da werden sogar Fragen nach existenziellen
Themen aufgeworfen. Auch gibt es durchaus Szenen, in denen der Ton
fast schon an die klassischen Wilhelm Busch Geschichten erinnert und
die beiden quasi das bekommen, was sie (aus der totalitären Sicht
der damaligen Zeit) „verdienen“. Das Ende spricht hierbei Bände
und ist – ebenso wie der gesamte Film – ein extrem spitzes
Kommentar über die Gesellschaft und wie sie mit Außenseitern und
Individualisten umgeht. Interessant ist hierbei wie gesagt die
Tatsache, dass „Tausendschönchen“ in einer kunstfeindlichen,
diktatorischen Umgebung entstanden ist und somit wohl als kleiner
Befreiungsschlag gesehen werden kann.
Fazit: Visuell beeindruckendes, farben-
und lebensfrohes Werk über zwei Freinaturen und ihre Streiche.
„Tausendschönchen“ ist kurzweilig und spaßig, hat aber dennoch
die nötige Substanz und Hintergrundgeschichte, um als kleiner aber
feiner Nischenfilm mit Aussage gesehen zu werden. Vor allem aufgrund
der Bilder einen Blick wert!
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