Dienstag, 7. Oktober 2014

REVIEW: TAUSENDSCHÖNCHEN (Vêra Chytilová, 1966)



Zwei junge Mädchen, welche beide den Namen Marie tragen, stellen fest, dass ihre Gliedmaßen bei jeder Bewegung ein laut hörbares Knirschen abgeben. Hierbei bemerken sie auch, dass die Welt schlecht und verdorben ist und beschließen kurzerhand, ihr Verhalten ebenso moralisch fragwürdig zu gestalten. Also geben sie sich der absoluten Verlotterung und dem Exzess hin, wobei ihr Handeln nach und nach immer rücksichtsloser wird.



Der tschechische Film „Tausendschönchen“ (Originaltitel: Sedmikrásky) ist eines jener Werke, welches eine sehr starke, historische Hintergrundgeschichte haben. Die 1929 geborene und erst dieses Jahr verstorbene Vêra Chytilová drehte den Film im Jahre 1966 in der Tschechoslowakei, welche zu dieser Zeit noch eine kommunistische Diktatur war. Da die Regisseurin mit ihrem Werk gegen so ziemlich alle Konventionen verstößt, welche man in einer solch totalitären Staatsform vorfindet, überrascht es kaum, dass der Film beschlagnahmt und Chytilová zeitweise sogar verboten wurde, ihrem Beruf als Filmemacherin nachzugehen. Und tatsächlich offenbart der auf den ersten Blick eher konfus daherkommende „Tausendschönchen“ bei genauerer Betrachtung einige für damalige Verhältnisse wirklich subversive und anstößige (?) Nuancen, welche im soziopolitischen Kontext wirklich Aussagekraft besitzen. Vielleicht ist gerade dieses vermeintliche seiner-Zeit-voraus-sein der Grund dafür, dass der Film außerhalb seiner Landesgrenzen und Jahrzehnte nach seiner Entstehung ein hohes Maß an Anerkennung bekommen hat und die Regisseurin sogar mit einigen Preisen ausgezeichnet wurde, zum Beispiel mit dem Silver Hugo.




Wie man es von Filmen dieser Art nicht anders gewohnt ist, ist der Aufbau von „Tausendschönchen“ extrem weit weg von allem, was man vom klassischen Erzählkino gewohnt ist. Eine durchgehende Handlung existiert nicht, vielmehr ist der Film eine Art Episoden bzw. Schnipselsammlung, deren einzelne Szenen sich zwar ähnlich sind, aber nicht wirklich durch einen roten Faden verbunden werden. Dieser Erzählstil verleiht dem Film eine wirre und rebellische Aura, welche sich wiederum extrem gut mit dem Inhalt widerspiegelt und ein gutes Beispiel für das „keine Form ohne Inhalt, kein Inhalt ohne Form“ Prinzip ist. Ebenso abgehackt wie die Handlung und der Schnitt sind die einzelnen Szenen selbst. Die beiden Maries schlemmen, betrinken und zoffen sich und lassen sich regelmäßig von bourgeoisen, offensichtlich an sexuellen Abenteuern interessierten Männern ausführen, um sie dann später abzuservieren. Die beiden Hauptcharaktere tragen den gesamten Film, sind allgegenwärtig und wirken auf eine fast schon kindliche Art überdreht, in höchstem Maße belebt und schräg, sodass das gesamte Geschehen sehr charmant und rasant wirkt, ohne jemals wirklich zu langweilen. Hier profitiert das Werk durch und durch von seiner schnelllebigen Technik.



So schnell und aufgedreht wie seine beiden Charaktere ist auch der visuelle Stil von „Tausendschönchen“. Vor allem das Spiel mit Farbe und Bewegung ist ein elementarer Aspekt des Films, welcher auch stets sehr vordergründig und offensiv auftritt. So erstrahlt das Bild von einer Sekunde auf die andere in einem knalligen Gelb und dann wieder in schwarz weiß. Zwischenschnitte auf altes, verrottetes Metall und eine grandiose Szene, in der die blonde Marie ihr Geschlechtsteil mit einem Bild von einem Schmetterling verdeckt sind nur wenige Beispiele für den süffisanten und subtilen Symbolismus, welcher dezent, doch durchgängig eingesetzt wird. Ebenso farbenfroh und durchgeknallt ist die Erscheinung der Maries selbst, welche stellenweise aussehen wie noble Damen und anderweitig herumlaufen wie bunt angemalte Punkerinnen. Gerade letzteres ist wohl so etwas wie Schlüsselwort- bzw. Konzept, denn auch das Verhalten der beiden ist das von klassischen Rebellen. „Tausendschönchen“ wirkt wie ein einziges Loblied auf Dekadenz, Völlerei und Querulantentum. Die Maries rauchen, trinken, klauen und legen sich ins Zeug, um genauso verdorben zu sein, wie die Welt es in ihren Augen ist. Interessant ist jedoch, dass ein gewisser kindlicher Charme nie abhanden kommt und die Hauptdarstellerinnen wirklich unschuldig wirken, im Gegensatz zu den Charakteren in solchen Filmen wie „Und erlöse uns nicht von dem Bösen“. Dennoch spielt Sexualität eine starke unterschwellige Rolle in „Tausendschönchen“. Obwohl die Maries eher asexuell zu sein scheinen, werden sie von den oben beschriebenen Männern lediglich als Sexobjekte gesehen, was sie natürlich schamlos ausnutzen, um ihren hedonistischen Trieben nachzugehen und die Männer schlussendlich alleine mit der Bahn wegzuschicken. Das vermittelte Geschlechter- und Gesellschaftsbild dürfte relativ eindeutig sein und keiner weiteren Beschreibung bedürfen.



Doch auch abseits des anarchischen Feminismus, gibt es philosophisch und artistisch Relevantes auszumachen. Obwohl die Gesellschafts- und Geschlechterrollenkritik sicherlich nicht von der Hand zu weisen ist, ist sie im Gesamtbild nicht penetrant genug, um anders gearteten Zuschauern den Filmgenuss madig zu machen. Die grotesken Handlungen und Szenen, allen voran zum Beispiel die Szene in denen die beiden mit Scheren Bilder zerschneiden und sich ihre Köpfe meterweit neben ihren Körpern bewegen tragen sehr viel zum unschuldig-schrägen Hedonismus der beiden bei und hier und da werden sogar Fragen nach existenziellen Themen aufgeworfen. Auch gibt es durchaus Szenen, in denen der Ton fast schon an die klassischen Wilhelm Busch Geschichten erinnert und die beiden quasi das bekommen, was sie (aus der totalitären Sicht der damaligen Zeit) „verdienen“. Das Ende spricht hierbei Bände und ist – ebenso wie der gesamte Film – ein extrem spitzes Kommentar über die Gesellschaft und wie sie mit Außenseitern und Individualisten umgeht. Interessant ist hierbei wie gesagt die Tatsache, dass „Tausendschönchen“ in einer kunstfeindlichen, diktatorischen Umgebung entstanden ist und somit wohl als kleiner Befreiungsschlag gesehen werden kann.



Fazit: Visuell beeindruckendes, farben- und lebensfrohes Werk über zwei Freinaturen und ihre Streiche. „Tausendschönchen“ ist kurzweilig und spaßig, hat aber dennoch die nötige Substanz und Hintergrundgeschichte, um als kleiner aber feiner Nischenfilm mit Aussage gesehen zu werden. Vor allem aufgrund der Bilder einen Blick wert!

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