Ein trister Pariser Vorort in den
späten 80ern. In den schmutzigen Plattenbauten versuchen zwei
Jugendliche zwischen allgegenwärtiger Gewalt, sozialen Problemen und
defekten Familienstrukturen, Halt zu finden. Doch was anfänglich
nicht mehr zu sein scheint, als eine Ansammlungen von Streichen und
Akten jugendlicher Rebellion, endet in einem Sog aus Gewalt, der
immer stärker wird aus den Fugen zu geraten droht.
Die Franzosen stehen seit jeher im Ruf,
schwere, melancholische und gewalttätige Kunst zu erzeugen. Beweise
für diese These wären zum Beispiel solche Autoren wie Donatien
Alphonse Francois de Sade, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und
Compte de Lautreamont (um nur ein paar der hervorragenden und
wegweisenden Schriftsteller zu nennen, die dieses Land hervorgebracht
hat) oder einige allseits bekannte und beliebte Black Metal Bands.
Weiterhin hat Frankreich auch in der Filmlandschaft einiges an
Erstaunlichem hervorgebracht. Luis Bunuel und Salvador Dali
beglückten die Welt im Jahre 1929 mit dem erhabenen „Un Chien
Andalou“, dessen Augen-Szene bis heute kultisch verehrt wird, und
Ende des letzten Jahrzehnts traten Filme wie „High Tension“,
„Inside“ und „Martyrs“ eine Welle des knüppelharten
Terrorkinos los, welche seinerzeit einschlug wie eine Bombe und ihren
Meister noch zu finden hat. Doch trotz dieser Errungenschaften
scheint gerade das (Sozial-)Drama das eigentliche Steckenpferd der
französischen Filmemacher zu sein. Die sozialen Unruhen in den
Banlieus waren die Inspiration für den aufsehenerregenden Film „La
Haine – Der Hass“ und Gaspar Noé hat mit „Irreversible“ und
„Menschenfeind“ zwei brutale Werke erschaffen, die in diesem
Bereich einen Status inne haben, wie kaum ein anderer Beitrag dieses
Couleurs. Zwischen all diesen „alten“ und „modernen“
Beispielen befindet sich ein Film, welches in keines der beiden
Sparten passt, aber dennoch den Geist einiger der genannten Werke
atmet: „Lärm und Wut“ (Originaltitel: De bruit et du fureur).
Der 1988 von Jean-Claude Brisseau gedrehte Film, welcher übrigens
mit dem sogenannten „Prix special de la jeunesse“ in Cannes
ausgezeichnet wurde und in seinem Heimatland die 18er Freigabe
erhielt, ist genau das, was man aus Frankreich kennt und mag: ein
harter Schlag in die Magengrube.
Nach dem Tod seines Großvaters muss
Bruno, welcher 14 Jahre alt ist, zu seiner Mutter ziehen. Diese wohnt
in einem Reihenhaus und kommuniziert lediglich über geschriebene
Nachrichten mit ihm, da sie nie zu Hause ist. Direkt lernt er
Jean-Roger kennen, ein bekannter Rabauke, der seine Umwelt
terrorisiert und sich jenseits jeglicher sozialer Norm bewegt. Er
kommt aus einer dysfunktionalen Familie, welche im selben Haus wie
Bruno wohnt und dessen Oberhaupt, Jean-Rogers Vater, ein gefährlicher
Grobian ist, der den ganzen Tag damit verbringt, mit einer Flinte in
der Wohnung herum zu schießen. Die einzige wirkliche Bezugsperson,
die Bruno hat, ist seine Lehrerin, welche die Lage des schüchternen
Jungen versteht und ihn fördert. Doch als sein einziger Freund
Jean-Roger anfängt, bei einer ansässigen Straßenbande
mitzumischen, eskaliert die Situation für alle beteiligten.
Im Gegensatz zu anderen Filmen, in
denen die „negativen“ Aspekte der Handlung erst nach und nach
hinzukommen, ist „Lärm und Wut“ ein durchgehend deprimierender
und trister Film. Schon ab der ersten Sekunde ist eine absolute Leere
und Verlorenheit zu spüren, welche Brisseau durchgehend beibehält
und über die Lauflänge ins Unermessliche steigert, sodass der
negative Sog einer Schlinge gleicht, welche sich kontinuierlich um
den Hals des Zuschauers zusammenzieht. Obwohl sich die anfangs
scheinbar losen Fragmente des dargestellten Elends irgendwann fast
unbemerkt zu einer gar nicht mal unspannenden Haupthandlung
verknüpfen, besteht kein Zweifel daran, dass Brisseau mit „Lärm
und Wut“ keinen Unterhaltungsfilm, sondern eine authentische
Darstellung eines solchen Viertels und der damit einhergehenden,
trostlosen Existenz, zu welcher es verdammt, erschaffen wollte.
Hierbei verzichtet er auf den bedrückend moralischen und
propagandistisch politisch korrekten Ton mancher neuerer
Sozialstudien (denn das ist „Lärm und Wut“ im Grunde genommen)
und bleibt auch den over-the-top Gewalteskapaden eines Gaspar Noés
fern. Sicherlich sind diesbezüglich bedeutende Tendenzen
auszumachen, doch eine der Stärken des Filmes ist und bleibt, dass
er sich durchgehend realitätsnah verhält und nie in Gefilde der
Überästhetisierung oder Dämonisierung abrutscht.
Natürlich lebt Brisseaus
Balieue-Darstellung in erster Linie von den Akteuren, welche sich
darin bewegen bzw. die Handlung tragen, denn sie sind bewusste
Reflektoren der angesprochenen Missstände. Bruno ist zum Beispiel in
diesem höllischen Cocktail als relativ ungefestigter und uferloser
Charakter wahrzunehmen, welcher noch nicht von der Gesellschaft, in
der er gezwungen ist zu leben, verdorben wurde und nach Halt sucht.
In ihm spiegelt sich auch so etwas wie eine Fluchtmöglichkeit wider,
denn durch die Interaktionen mit seiner jungen, motivierten Lehrerin,
ist er der einzige Hauptcharakter, der aktiv versucht, etwas aus
seiner Lage zu machen. Sicherlich würden anderen Filme diesen
Plotpoint nutzen, um die Geschichte ins Positive umschwenken zu
lassen, doch durch die Art, in der die anderen dies sabotieren, wird
schnell klar, dass die Gesellschaft in „Lärm und Wut“ nicht der
alleinige Aggressor ist, sondern man es hier viel mehr mit einem
komplexen Geflecht aus Aktion und Reaktion zu tun hat, bei der die
Grenzen zu verschwimmen scheinen. Dies wird vor allem durch
Jean-Rogers Vater veranschaulicht. Er ist ein gestörter, aggressiver
und waffenverrückter Verbrecher und Gewaltmensch, dessen antisoziale
Haltung jedoch eine bewusste ist. Er spricht sein Kriegstrauma und
seinen tiefsitzenden Hass gegen die Gesellschaft in einem Gespräch
mit seinem ältesten, liebsten Sohn an, was wie ein Manifest gegen
die Obrigkeit und Ordnung klingt, welches (erschreckenderweise?) über
die vielen Jahre wahrscheinlich noch an Gehalt und Aussagekraft
gewonnen haben dürfte. Doch zeigt sich hier auch ein weiterer,
verbitterter Zug der Nichtshabenden: der Hass und der Neid auf die
Habenden. Jean-Rogers Familie duldet in ihrem Umkreis keinerlei
Freude und soziale Integration, was sowohl Bruno als auch der älteste
Sohn der Familie auf fatale Art zu spüren bekommen. Mit am
interessantesten dürfte jedoch Jean-Roger selbst sein. Er ist
ausgestattet mit dem klassischen Charme eines Rebellen, doch ist zu
schizoid und grenzgängerisch, um als sympathischer Underdog
wahrgenommen zu werden. So quält er zum Beispiel Tiere und
terrorisiert hilflose und schwächere Menschen aus reiner Freude.
Auch in ihm spiegelt sich der weiter oben angesprochene Neid auf die
Glücklichen und Habenden wieder, was ihn zu einem der schwierigsten
und zugleich ausdrucksstärksten Charaktere des Filmes, vor allem
wenn man bedenkt, wie und wo er endet. Alles andere als eine
einseitige und undurchdachte Stilisierung von Querulantentum.
Weiterhin macht Brisseau auch Gebrauch
von einem sehr starken Symbolismus, der sich teils subtil, teils
geradezu surrealistisch gestaltet. Am eindrucksvollsten ist
sicherlich Brunos Kanarienvogel „Supermann“, welcher sich in
seinem inneren Auge in einen großen Falken verwandelt. Des weiteren
erscheint ihm oftmals eine nackte Frau, welche angeblich über
magische Kräfte verfügt. Das Verlangen und der Wille zum
Glücklichsein manifestieren sich hier auf eine zunächst schöne,
doch später bitterböse Weise. Auch die Waffengewalt und die damit
einhergehende Revolte gegen das Bestehende ziehen sich durch den
gesamten Film und tragen ihn bis zum Schluss, in dem alles einen
tragischen Höhepunkt findet.
Fazit: „Lärm und Wut“ ist ein
grandioser Film, welcher deprimiert, erschreckt und fasziniert. Die
Charaktere sind perfekt ausgearbeitet und das Setting ist nahezu
unerträglich hart, obwohl (oder gerade weil) es absolut nicht
übertrieben ist. Ein absolutes Meisterwerk!
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