Samstag, 25. Oktober 2014

REVIEW: LÄRM UND WUT (Jean-Claude Brisseau, 1988)




Ein trister Pariser Vorort in den späten 80ern. In den schmutzigen Plattenbauten versuchen zwei Jugendliche zwischen allgegenwärtiger Gewalt, sozialen Problemen und defekten Familienstrukturen, Halt zu finden. Doch was anfänglich nicht mehr zu sein scheint, als eine Ansammlungen von Streichen und Akten jugendlicher Rebellion, endet in einem Sog aus Gewalt, der immer stärker wird aus den Fugen zu geraten droht.



Die Franzosen stehen seit jeher im Ruf, schwere, melancholische und gewalttätige Kunst zu erzeugen. Beweise für diese These wären zum Beispiel solche Autoren wie Donatien Alphonse Francois de Sade, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und Compte de Lautreamont (um nur ein paar der hervorragenden und wegweisenden Schriftsteller zu nennen, die dieses Land hervorgebracht hat) oder einige allseits bekannte und beliebte Black Metal Bands. Weiterhin hat Frankreich auch in der Filmlandschaft einiges an Erstaunlichem hervorgebracht. Luis Bunuel und Salvador Dali beglückten die Welt im Jahre 1929 mit dem erhabenen „Un Chien Andalou“, dessen Augen-Szene bis heute kultisch verehrt wird, und Ende des letzten Jahrzehnts traten Filme wie „High Tension“, „Inside“ und „Martyrs“ eine Welle des knüppelharten Terrorkinos los, welche seinerzeit einschlug wie eine Bombe und ihren Meister noch zu finden hat. Doch trotz dieser Errungenschaften scheint gerade das (Sozial-)Drama das eigentliche Steckenpferd der französischen Filmemacher zu sein. Die sozialen Unruhen in den Banlieus waren die Inspiration für den aufsehenerregenden Film „La Haine – Der Hass“ und Gaspar Noé hat mit „Irreversible“ und „Menschenfeind“ zwei brutale Werke erschaffen, die in diesem Bereich einen Status inne haben, wie kaum ein anderer Beitrag dieses Couleurs. Zwischen all diesen „alten“ und „modernen“ Beispielen befindet sich ein Film, welches in keines der beiden Sparten passt, aber dennoch den Geist einiger der genannten Werke atmet: „Lärm und Wut“ (Originaltitel: De bruit et du fureur). Der 1988 von Jean-Claude Brisseau gedrehte Film, welcher übrigens mit dem sogenannten „Prix special de la jeunesse“ in Cannes ausgezeichnet wurde und in seinem Heimatland die 18er Freigabe erhielt, ist genau das, was man aus Frankreich kennt und mag: ein harter Schlag in die Magengrube.




Nach dem Tod seines Großvaters muss Bruno, welcher 14 Jahre alt ist, zu seiner Mutter ziehen. Diese wohnt in einem Reihenhaus und kommuniziert lediglich über geschriebene Nachrichten mit ihm, da sie nie zu Hause ist. Direkt lernt er Jean-Roger kennen, ein bekannter Rabauke, der seine Umwelt terrorisiert und sich jenseits jeglicher sozialer Norm bewegt. Er kommt aus einer dysfunktionalen Familie, welche im selben Haus wie Bruno wohnt und dessen Oberhaupt, Jean-Rogers Vater, ein gefährlicher Grobian ist, der den ganzen Tag damit verbringt, mit einer Flinte in der Wohnung herum zu schießen. Die einzige wirkliche Bezugsperson, die Bruno hat, ist seine Lehrerin, welche die Lage des schüchternen Jungen versteht und ihn fördert. Doch als sein einziger Freund Jean-Roger anfängt, bei einer ansässigen Straßenbande mitzumischen, eskaliert die Situation für alle beteiligten.



Im Gegensatz zu anderen Filmen, in denen die „negativen“ Aspekte der Handlung erst nach und nach hinzukommen, ist „Lärm und Wut“ ein durchgehend deprimierender und trister Film. Schon ab der ersten Sekunde ist eine absolute Leere und Verlorenheit zu spüren, welche Brisseau durchgehend beibehält und über die Lauflänge ins Unermessliche steigert, sodass der negative Sog einer Schlinge gleicht, welche sich kontinuierlich um den Hals des Zuschauers zusammenzieht. Obwohl sich die anfangs scheinbar losen Fragmente des dargestellten Elends irgendwann fast unbemerkt zu einer gar nicht mal unspannenden Haupthandlung verknüpfen, besteht kein Zweifel daran, dass Brisseau mit „Lärm und Wut“ keinen Unterhaltungsfilm, sondern eine authentische Darstellung eines solchen Viertels und der damit einhergehenden, trostlosen Existenz, zu welcher es verdammt, erschaffen wollte. Hierbei verzichtet er auf den bedrückend moralischen und propagandistisch politisch korrekten Ton mancher neuerer Sozialstudien (denn das ist „Lärm und Wut“ im Grunde genommen) und bleibt auch den over-the-top Gewalteskapaden eines Gaspar Noés fern. Sicherlich sind diesbezüglich bedeutende Tendenzen auszumachen, doch eine der Stärken des Filmes ist und bleibt, dass er sich durchgehend realitätsnah verhält und nie in Gefilde der Überästhetisierung oder Dämonisierung abrutscht.



Natürlich lebt Brisseaus Balieue-Darstellung in erster Linie von den Akteuren, welche sich darin bewegen bzw. die Handlung tragen, denn sie sind bewusste Reflektoren der angesprochenen Missstände. Bruno ist zum Beispiel in diesem höllischen Cocktail als relativ ungefestigter und uferloser Charakter wahrzunehmen, welcher noch nicht von der Gesellschaft, in der er gezwungen ist zu leben, verdorben wurde und nach Halt sucht. In ihm spiegelt sich auch so etwas wie eine Fluchtmöglichkeit wider, denn durch die Interaktionen mit seiner jungen, motivierten Lehrerin, ist er der einzige Hauptcharakter, der aktiv versucht, etwas aus seiner Lage zu machen. Sicherlich würden anderen Filme diesen Plotpoint nutzen, um die Geschichte ins Positive umschwenken zu lassen, doch durch die Art, in der die anderen dies sabotieren, wird schnell klar, dass die Gesellschaft in „Lärm und Wut“ nicht der alleinige Aggressor ist, sondern man es hier viel mehr mit einem komplexen Geflecht aus Aktion und Reaktion zu tun hat, bei der die Grenzen zu verschwimmen scheinen. Dies wird vor allem durch Jean-Rogers Vater veranschaulicht. Er ist ein gestörter, aggressiver und waffenverrückter Verbrecher und Gewaltmensch, dessen antisoziale Haltung jedoch eine bewusste ist. Er spricht sein Kriegstrauma und seinen tiefsitzenden Hass gegen die Gesellschaft in einem Gespräch mit seinem ältesten, liebsten Sohn an, was wie ein Manifest gegen die Obrigkeit und Ordnung klingt, welches (erschreckenderweise?) über die vielen Jahre wahrscheinlich noch an Gehalt und Aussagekraft gewonnen haben dürfte. Doch zeigt sich hier auch ein weiterer, verbitterter Zug der Nichtshabenden: der Hass und der Neid auf die Habenden. Jean-Rogers Familie duldet in ihrem Umkreis keinerlei Freude und soziale Integration, was sowohl Bruno als auch der älteste Sohn der Familie auf fatale Art zu spüren bekommen. Mit am interessantesten dürfte jedoch Jean-Roger selbst sein. Er ist ausgestattet mit dem klassischen Charme eines Rebellen, doch ist zu schizoid und grenzgängerisch, um als sympathischer Underdog wahrgenommen zu werden. So quält er zum Beispiel Tiere und terrorisiert hilflose und schwächere Menschen aus reiner Freude. Auch in ihm spiegelt sich der weiter oben angesprochene Neid auf die Glücklichen und Habenden wieder, was ihn zu einem der schwierigsten und zugleich ausdrucksstärksten Charaktere des Filmes, vor allem wenn man bedenkt, wie und wo er endet. Alles andere als eine einseitige und undurchdachte Stilisierung von Querulantentum.



Weiterhin macht Brisseau auch Gebrauch von einem sehr starken Symbolismus, der sich teils subtil, teils geradezu surrealistisch gestaltet. Am eindrucksvollsten ist sicherlich Brunos Kanarienvogel „Supermann“, welcher sich in seinem inneren Auge in einen großen Falken verwandelt. Des weiteren erscheint ihm oftmals eine nackte Frau, welche angeblich über magische Kräfte verfügt. Das Verlangen und der Wille zum Glücklichsein manifestieren sich hier auf eine zunächst schöne, doch später bitterböse Weise. Auch die Waffengewalt und die damit einhergehende Revolte gegen das Bestehende ziehen sich durch den gesamten Film und tragen ihn bis zum Schluss, in dem alles einen tragischen Höhepunkt findet.

Fazit: „Lärm und Wut“ ist ein grandioser Film, welcher deprimiert, erschreckt und fasziniert. Die Charaktere sind perfekt ausgearbeitet und das Setting ist nahezu unerträglich hart, obwohl (oder gerade weil) es absolut nicht übertrieben ist. Ein absolutes Meisterwerk!

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